Redebeitrag auf der Solidaritätsveranstaltung am 23. August in der jw-Galerie, Berlin
Am 22.5.2013 fanden unter großem Polizeieinsatz Hausdurchsuchungen in insgesamt 21 Objekten in Berlin, Stuttgart und Magdeburg statt. Vorgeworfen wird den Beschuldigten die Mitgliedschaft und Unterstützung der Revolutionären Aktionszellen (RAZ) und der Revolutionären Linken (RL), sowie die Mitwirkung an der Publikation der Zeitschrift ›radikal‹. Nach dem Willen der Staatsanwaltschaft sollen die Revolutionären Aktionszellen eine Nachfolgeorganisation der militanten Gruppe (mg) sein. In allen Fällen lautet der Vorwurf: Mitgliedschaft bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nach § 129.
In aller Regel können sich die Beschuldigten weder die Tatvorwürfe (sie reichen in diesem Fall von Anschlägen auf Arbeitsagenturen bis hin zu Anschlägen auf Zentrale Mahngerichte in Berlin und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Berlin-Mitte), die Mitbeschuldigten, noch die Gruppe aussuchen, der sie zugeordnet werden.
Wie geht man mit solchen Anschuldigungen um? Wie verhält man sich zur Anklage? Wie sollen sich die Beschuldigten juristisch verhalten? Wie soll und kann eine politische Solidaritätsarbeit aussehen?
Anhand von vier großen Zeitsprüngen sollen die Erfahrungen und Antworten zu diesen Fragen dargestellt werden.
1981 wurde die sehr bescheidene Häuserkampfbewegung in Frankfurt von einer Repressionswelle erfasst, auf die sie nicht im Geringsten vorbereitet war. Mithilfe eines Kronzeugen wurde aus einem mehr als losen Haufen, dem Schwarzen Block, eine straff geführte Organisation, mit Waffendepots, Spezialisten und ganz vielen Anschlagszielen. Aus einer ironischen Selbstbeschreibung wurde eine ›terroristische Vereinigung‹ nach § 129a:
»Es war klug durchdacht! Ein Riesenaufgebot von Polizisten rückte an. Alle glaubten, es gehe ausschließlich um das besetzte Bundesbahnwerk in Nied. Während die Räumung begann, führten Anti-Terror-Spezialisten einen Schlag gegen mutmaßliche ›RAF-Helfer‹ – gegen den ›Schwarzen Block‹. 1.000 Beamte waren unterwegs. Sie durchkämmten (auf richterlichen Beschluss) 40 Wohnungen im Rhein-Main-Gebiet. Ihr Auftraggeber: Generalbundesanwalt Rebmann.« (BILD vom 29.7.1981)
Im Zuge dieser Terror-Hatz wurden über sechs Personen verhaftet. In vielen war die Bewegung völlig überfordert, vor allem darin, den Ansprüchen der Anklage gerecht zu werden. Dennoch gelang eines: Man machte den Kronzeugen ausfindig. Anstatt ihn in der Luft zu zerreißen, wurde nach den Umständen gefragt, die ihn zu den umfangreichen Beschuldigungen veranlassten. Sehr schnell stellte sich heraus, dass der Kronzeuge mit seinen äußerst labilen persönlichen Verhältnisse von Staatsschutzbeamten erpresst wurde. Es gelang, ihn zur Rücknahme aller Beschuldigungen zu bewegen – in Anwesenheit eines Zeitungsredakteurs. Nach mehr als drei Monaten Haft wurden alle Beschuldigten freigelassen und erhielten Haftentschädigung.
Am 2.11.1987 wurden während einer nächtlichen Demonstration am Frankfurter Flughafen zwei Polizeibeamte erschossen. Auch wenn zur Verhinderung der Startbahn West (auch nach ihrer Einweihung 1984) vieles nötig und richtig war, so gehörte der Einsatz von Schusswaffen nicht dazu. Mithilfe des Mordvorwurfes wurden zahlreiche Verhaftungen, unzählige Hausdurchsuchungen und Vorladungen gerechtfertigt. Angesichts der Dimension des Vorwurfes machten viele, viel zu viele Aussagen. Aussagen, die nicht nur sie selbst belasteten, sondern vielfach auch andere.
Wie geht man mit einem Mordvorwurf um? Wie geht man mit den vielen belastenden Aussagen um? Ein kleiner Teil der Bewegung machte sich die Anklage zu eigen und suggerierte mit der Parole ›Keine sieben (oder neun) Millimeter dem Staat‹ Augenhöhe und Einstand.
Wir lehnten einen Radikalismus ab, für den es weder einen politischen Konsens, die notwendigen Strukturen, noch die politischen Bedingungen gab. Aber wir verteidigten offensiv all das, was in der Startbahnbewegung Platz hatte, was im Laufe der zahlreichen Startbahnprozesse auch juristisch verfolgt wurde: Anschläge auf Baufahrzeuge, auf die Infrastruktur des Flughafens, bis hin zum Fällen von Strommasten (als eine Antwort von vielen auf die atomare Katastrophe in Tschernobyl 1986)
Uns als Bewegung politisch klar zu erkennen zu geben, diese Praxis politisch zu verteidigen und zu begrüßen, war für uns Basis der ›Anna und Arthur‹ Kampagne – die dann als Aussageverweigerungskampagne bekannt werden sollte.
Die Kampagne verhielt sich nicht nach dem Lehrbuch, sie verlangte kein fehlerloses, lupenreines politisches Verhalten. Nicht einmal diejenigen, die den Ausschluss verkündet hätten, wären unter solchen Maßgaben davongekommen. Uns ging es um etwas anderes: Für die Aussagen, die mithilfe der Mordanklage erpresst wurden, übernahmen wir mit die Verantwortung.
Wie passen Prinzipien und Empathie zusammen?
Für uns galt und gilt, dass bis zur Vorlage der Anklageschrift keine Aussagen gemacht werden, selbst wenn sie ausschließlich die eigene Person betreffen. Dabei geht es um nichts Heldenhaftes. Es ist schlicht eine praktische und kluge Entscheidung, denn jede Aussage vor Prozessbeginn kann zur Veränderung der Anklage, also auch zur Verschlechterung der eigenen Verteidigung führen. Diese Grenzlinie zu ziehen ist wichtig – vorausgesetzt, sie ist in der Bewegung diskutiert, in den Gruppen verankert (was für die Startbahnbewegung mit Ach und Krach der Fall war).
Von dieser Grenzziehung ausgehend ist es möglich, deren Überschreitung deutlich zu machen. Erst diese Grenzlinie verlangt nach einer besonderen (kollektiven) Begründung, wenn sie überschritten wird.
Wir forderten also die Rücknahme gemachter Aussagen… und hatten damit politisch einen nicht mehr erwarteten Erfolg: Fast alle Aussagen wurden vor und während des Prozesses zurückgenommen.
Und wir entschlossen uns ein weiteres Mal, die Grenzlinie zu übertreten: Aufgrund der Tatsache, dass ein Angeklagter auch im laufenden Prozess schwerwiegende Vorwürfe aufrecht erhalten hatte, beschlossen wir, dass gezielte, kollektiv abgestimmte Entlastungen vor Gericht möglich sind.
Weitere zehn Jahre später, ab dem Jahr 2000 begannen die Prozesse gegen die Revolutionären Zellen/RZ in Berlin, ein noch laufendes Verfahren in Frankfurt gegen Sonja Suder und Christian Gauger wurde 2012 eröffnet.
Diese Prozessserie brachte der Kronzeuge Tarek Mousli mit umfangreichen Aussagen und Belastungen ins Rollen. Zahlreiche Personen wurden inhaftiert, nach einigen wurde gefahndet, die seit Jahren, seit Jahrzehnten ›verschwunden‹ waren. Im Rückblick glaube ich, dass die Solidaritätskampagne bis heute tiefe Wunden hinterlassen hat. Juristisch wurde versucht, die Aussagen von Tarek Mousli als völlig unglaubwürdig zu diskreditieren, was auch außerhalb des Gerichtsgebäudes dadurch unterstützt wurde, dass man Tarek Musli als »Großmaul« abstempelte. Alle, die Tarek persönlich und politisch kannten, wussten, dass das taktisch und politisch ein Eigentor werden musste.
Doch jenseits der Frage, wie man am besten juristisch agiert, stand als Bewegung die Frage im Raum: Wie verhalten wir uns zur Geschichte der RZ/Rote Zora?
Für uns wäre es – vor allem außerhalb des Prozesses – darum gegangen, zur Geschichte der RZ/Rote Zora offensiv zu stehen, nicht in Form einer Legendierung, sondern als Spiegelbild der autonomen, der militanten Bewegung. Übereinstimmungen, Sympathien, großartige Aktionen, bis heute lesenswerte Grundsatzpapiere, Neuorientierungen stehen neben Brüchen, Widersprüchen, Fehlern, fatalen Ereignissen und Auflösungen.
Heute weiß man, dass der Sprengstoff, der 1995 Tarek Mousli zugeordnet wurde, nicht nur der Sprengstoff der RZ war. Es war – im übertragenden Sinne – der Sprengstoff, der keinen richtigen Ort mehr hatte, der keinem gemeinsamen Ziel mehr diente. Nicht nur Tarek Mousli, nicht nur die RZ traf dieser Fund auf dem falschen Fuß. Die Auflösungserklärung aus Kreisen der RZ stammt aus dem Jahr 1992, die autonome Bewegung, viele militante Gruppen folgten ihr – ohne schriftliche Erklärung.
Die Frage, wie macht man weiter, was muss man anders machen, war und ist keine Frage der RZ, es war und ist die Frage vieler, die sich in den 90er Jahren zu orientieren suchten. Anstatt sie still (oder denunziatorisch) zu beantworten, wäre eine offene, aufregende Debatte, die ins Heute hineingreift, ein mutiger und notwendiger Schritt gewesen.
Gehen wir zehn Jahre weiter, ins Jahr 2011:
Am 23. Mai 2011 kam es in Berlin zu einer Sabotageaktion gegen eine Kabelbrücke in Berlin. Eine Kabelbrücke ist eine oberirdische Kabelführung, die verschiedene Kabel bündelt: Stromkabel, Signal- und Telefonleitungen, Glasfaserkabel. Es kam zu Verspätungen im S- und Bahnverkehr. Ticketautomaten und Telefonverbindungen im Festnetz fielen aus. Manchenorts waren Handys ohne Netz.
Eine Gruppe ›Das Grollen des Eyjafjallajökull‹ begründete diese Sabotageaktion u.a. mit der Rolle der Bahn AG beim Castortransport, bei der Verladung von Kriegsgütern. Ein paar Monate später kam es in Berlin abermals zu mehreren Anschlägen auf Kabelstränge, die in Betonschalen entlang des Gleisbettes der Bahn geführt werden. Zu dieser Aktion bekannte sich eine Gruppe namens ›Das Hekla-Empfangskommitee – Initiative für mehr gesellschaftliche Eruptionen‹. Wieder kommt es zu Verspätungen im S-Bahn- und Zugverkehr, zu lokalen Ausfällen des Handynetzes, zu Beeinträchtigungen von Internetverbindungen.
Was für gewöhnlich – selbst in linken Medien – auf keine große Aufmerksamkeit stößt, schon gar nicht hitzige Debatten auslöst, passierte auf einmal doch: Innerhalb weniger Stunden sammelten, stritten und fetzten sich auf linksunten.indymedia.org über 500 Kommentare zu dem Anschlag, zu der Erklärung.
Wertet man die Kommentare aus, so lassen sich drei gleichstarke Positionen herausschälen:
Die erste solidarisiert sich und weist (manchmal in rauen Ton) die beklagten ›Nebenwirkungen‹ als lächerlich zurück – nach dem Motto: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Die zweite erklärt ihre inhaltliche Zustimmung und lehnt das Mittel der Sabotage ab. In diesem Sinne hatte Ulla Jelpke ihre Stellungnahme vom 13.10.2011 verfasst:
»Die im Bekennerschreiben genannten Ziele der Gruppe sind durchaus richtig. Sie protestiert gegen Kriege von deutschem Boden aus und Waffenlieferungen in alle Welt; sie protestiert gegen die Ausplünderung anderer Kontinente und die Verarmung großer Teile der Bevölkerung – auch hierzulande; sie wendet sich gegen den alltäglichen Leistungsdruck, der Menschen kaputt und krank macht. Doch die Wahl der Mittel ist falsch. Und sie ist kontraproduktiv. Sie ist die Vorlage für die politische Rechte… Den Bundeswehreinsatz in Afghanistan können wir nur mit einer Massenbewegung beenden. Sabotageaktionen zu Lasten der Bevölkerung erweisen diesem Ziel einen Bärendienst. Darum: Laßt uns Sand im Getriebe der Kriegspolitik sein – massenhaft!« (jW vom 13.10.2011)
Die dritte Position nimmt vor allem die ›Nebenwirkungen‹ zum Anlass, diese Aktion für unverantwortlich und anmaßend zu kritisieren. UserInnen melden sich immer wieder mit persönlichen Erfahrungen zu Wort: Ihr Handy ging nicht, ihre S-Bahn fuhr nicht, ihr Zug kam zu spät, kritisierten also die Eingriffe in ihr Leben.
Zu allen drei Positionen ist einiges zu sagen:
Wer die Nebenwirkungen von Aktionen, also Auswirkungen, die nicht beabsichtigt, aber auch nicht zu vermeiden sind, mit einer großen verbalen Geste vom Tisch wischt, unterstreicht damit nicht seine Sympathie, sondern setzt sie aufs Spiel. Selbstverständlich ist es nicht egal, welche unbeabsichtigte Auswirkungen eine Aktion hat und genau dies macht die Gruppe in ihren Nachträgen auch deutlich: Man hoffte nicht einfach, dass unbeabsichtigte Nebenwirkungen gering bleiben – man machte diese Aktion in dem Wissen, dass es zu keinen Zugzusammenstößen kommen kann, da die Ampelanlagen automatisch auf ›rot‹ umschalten, wenn die Signalanlagen gestört sind.
Die Annahme, dass Sabotageaktionen als ›Vorlage für die politische Rechte‹ dienen, also zu Gesetzesverschärfungen etc. ist so alt wie falsch. Die politische Rechte braucht keine Vorlagen, um Freiheits – bzw. Grundrechte einzuschränken. Oder kann irgendjemand belegen, dass die Notstandsgesetze 1967 aus Anlass von Sabotageaktionen verabschiedet wurden?
Auch das zweite Argument hat nicht die Geschichte, sondern nur die eigene politische Meinung hinter sich. Ein Krieg, eine ruinöse Klasse ließe sich nur durch eine ›Massenbewegung‹ aufhalten. Wer hindert jemand daran, die Massenbewegung auf die Beine zu stellen? Die Schwierigkeit, genau dies zu tun, liegt doch nicht bei jenen, die sich für Sabotage als ein Mittel von vielen entscheiden. Anstatt Sabotage als der eigenen Sache abträglich zu bezeichnen, wären doch andere Fragen zu aller erst zu beantworten: Warum ändert die massenhafte Ablehnung des Afghanistankrieges nichts an dessen Fortführung? Was bewirkt das Mittel der Demonstration, wenn Hunderttausend in ihrer Freizeit den Krieg verurteilen und ihn im (Arbeits-)Alltag ermöglichen? Eine Massenbewegung gegen die Logik der Agenda 2010-Systemoptimierer (Montagsdemonstrationen, Agenturschluss-Kampagne, ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹ usw.) scheiterte doch nicht an Sabotageaktionen?
Wenn (Massen-)Bewegungen Erfolg hatten, wie z.B. die Anti-AKW-Bewegung oder die Häuserkampfbewegungen, dann lag es nicht daran, dass sie alle die Gesetze befolgt hatten, sondern indem sie weder Legalität noch Illegalität, weder Gewaltfreiheit noch Gegengewalt aufs Schild gehoben haben, sondern indem sie sich dieser Grenzziehungen verweigert hatten! Ohne Hausbesetzungen, ohne Platzbesetzungen, ohne Gleisbesetzungen, ohne militante Aktionen erklären sich die Erfolge von Bewegungen genauso wenig, wie die Beteiligung derer, die andere Mittel des Protestes, des Widerstandes wählten.
Diese hier skizzierte Netz-Debatte nahm ein Taz-Bewegungsredakteur zum Anlass eines äußerst treffenden Würdigung: »Eines würde ich gerne wissen: Wir Welterklärer und Versteherinnen – warum gefällt uns die Revolte immer nur abstrakt und ganz woanders? Wie soll er denn dann, bitte, sein, der schöne Aufstand? Einfach nur schön wahrscheinlich. Und ohne aufstehen.« (TAZ vom 12.10.2011)
Es gäbe also viele Fragen zu stellen, viele Fragen zu diskutieren – alte Fragen, neue Antworten. Nicht im Netz, sondern in öffentlichen Diskussionen. Das Netz ist nicht das Ende dieses Schweigens, sondern eine Form, es sicher auszuhalten.
Wenn alle, die es besser wissen, die es richtig machen würden, die woanders am liebsten dabei wären, dies – nicht im Netz – täten, hätten wir nicht länger eine virtuelle Debatte, sondern viele Praxen. Dann würde vielleicht auch das Verhältnis zwischen AkteurInnen und ›NetzaktivistInnen‹ nicht länger 5:500, das Verhältnis zwischen LinienrichterInnen und SpielerInnen nicht länger 10: 1 bleiben.
Die Verhältnisse nicht nur zu beklagen, sie verändern zu wollen, setzt Veränderungen, Unterbrechungen, Störungen des ›Normalen‹ voraus, also auch das, was wir selbst für ›normal‹ halten, worin wir nicht gestört werden möchten. Revolten, gar Revolutionen schön finden, und pünktlich zur Arbeit kommen zu wollen, geht nicht – weder in Tunis, Kairo, noch in Berlin oder Hamburg.
Wolf Wetzel
Die Hunde bellen … von A bis (R)Z – Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre, autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Unrast Verlag 2001
Aufstand in den Städten. Krise.Proteste.Strategien, Unrast Verlag 2012