Die publizistischen Flaggschiffe der bundesdeutschen „Qualitätspresse“ schlagzeilten jeweils differenziert: „Warnung vor Ausnahmen beim Mindestlohn“, so titelte die Süddeutsche Zeitung in ihrem Aufmacher am 20.1.2014. Einen Tag später urteilte die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit der Überschrift „Kein Mindestlohn für Azubis. Gutachten: Ausnahmen sind rechtlich möglich“. Die Presseveröffentlichungen zeigen auf, dass der im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU vereinbarte allgemeine gesetzliche Mindestlohn von € 8,50 weiterhin kontrovers nachverhandelt wird. Hintergrund dieses medialen Echos ist eine Expertise, welche der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags im Auftrag der Grünen-Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer angefertigt hat und in der es um potentielle Ausnahmeregelungen im anvisierten Mindestlohngesetz geht.
Innerhalb der linksgewerkschaftlichen, (anarcho-)syndikalistischen und unionistischen Szenerie beginnt eine Diskussion darüber, dass der Mindestlohn in seiner vorgesehenen regierungsamtlichen Ausgestaltung zu einer dauerhaften Etablierung eines Niedriglohnsektors führen muss. Dieser „Nebeneffekt“ ist weder zufällig noch ungewollt …
Unterhöhlung des Mindestlohns
Seit Beginn der Mindestlohndebatte treten die Vereinigungen aus dem Arbeitgeberlager und ihre lobbyistischen Vorfeldstrukturen in die Arena, um die Diskurshoheit zu erlangen und erweiterte Ausnahmeregelungen zu verlangen, die die Allgemeinverbindlichkeit eines Mindestlohns systematisch unterlaufen. Der gebetsmühlenartig präsentierte Vortrag von „negativen Beschäftigungseffekten“ bei Einführung eines Mindestlohns von Vertreterinnen der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie findet allerdings immer weniger Zuhörerinnen, da ihnen schlicht die empirische Beweiskraft fehlt.
Die Unterhöhlung des Mindestlohns durch ein Ausnahmebündel findet bereits im GroKo-Vertrag seinen Ausdruck; ehrenamtliche Tätigkeiten, Praktikantinnen, die noch studieren, zur Schule gehen oder sich in einer Berufsausbildung befinden, sollen nicht unter diese Regelung fallen. Das Einfallstor für eine Aufweichung dieser gesetzlichen Initiative der „schwarz-roten“ Lohnregulierung ist demnach weit geöffnet. Im Vertragswerk der Großkoalitionärlnnen ist vorgesehen, dass Abstufungen nach unten beim Mindestlohngesetz bis zum 31.12.2016 „durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene“ möglich sein sollen und erst ab 01.01.2017 der bundesweite gesetzliche Mindestlohn „uneingeschränkt“ gelten soll. Diese Tariföffnungsklausel soll für bereits abgeschlossene wie für noch abzuschließende Tarifverträge gelten. Dem GroKo-Vertrag zufolge soll erstmals zum 10.06.2017 mit Wirkung zum 01.01.2018 von einer „Kommission der Tarifpartner“ die Lohnhöhe „überprüft“ und „gegebenenfalls angepasst“ werden.
Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner argumentiert, Schülerinnen, Studierende und Rentnerinnen mit einem Zuverdienst seien anders zu behandeln als Arbeitnehmerinnen, die mit einer Vollzeittätigkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Entlohnung saisonal Beschäftigter dürfte hierbei besonders strittig sein. Mit dieser „Zubrot-These“ attackiert die CSU das verfassungsrechtlich geschützte Gleichheitsgebot, wie es seitens der parlamentarischen Linken heißt. Schützenhilfe bekommt sie in diesem Falle von den Bundestagsjuristlnnen, da insbesondere bei Rentnerinnen und Studierenden Ausnahmen eine „verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung darstellen“ könnten. Diesen Personen kann nicht ohne weiteres der Arbeitnehmerinnen-Status verwehrt werden, weil sie ihre Arbeitskraft gegen Entgelt zur Verfügung stellen.
Gewerkschaftliche Mindestlohndebatte
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Sonderorganisation der UN, formulierte bereits 1970 für ihre mehr als 180 Mitgliedsstaaten eine Absichtserklärung zur Einführung von Verfahren zur vertraglichen Festlegung von Mindestlöhnen. Diese Empfehlung, die von der Mehrheit der Staaten des hochindustrialisierten Nordens angenommen wurde, spielte offenbar für Generationen in der Schaltzentrale des DGB keine wesentliche Rolle. D.h. im Klartext, dass Frauen, Jüngere, Geringqualifizierte, Lohnabhängige ohne abgeschlossene Berufsausbildung sowie Teilzeitbeschäftigte in den von Niedriglöhnen betroffenen Branchen des Gastgewerbes, der Landwirtschaft und des (Einzel-)Handels nicht ins Blickfeld eines gesteigerten gewerkschaftlichen Engagements geraten konnten.
Eine politisch-parlamentarische Regulierung der Lohnentwicklung in der BRD galt jahrzehntelang als ein unantastbares Tabu. Selbst die sozialpartnerschaftlichen Einzelgewerkschaften, die sich unter dem Dach des DGB organisieren, widersetzten sich einer gesetzlichen Verankerung von Lohnhöhen bzw. Lohnuntergrenzen. Vorreiterin einer Popularisierung des Mindestlohns innerhalb des DGB war die Einzelgewerkschaft NGG, die für das Aushandeln der besonders prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Hotel- und Gaststättenbranche zuständig ist. Die IG BCE und die IG Bau traten hartnäckig als innergewerkschaftliche Gegner einer solchen Minimumregelung des Arbeitsentgelts auf und bevorzugten stattdessen branchenspezifische Lösungsmodelle mit den Inhaberinnen der Produktionsmittel.
Der schwerfällige Apparat des DGB kam erst durch inneren Druck der Mitgliedsbasis und äußere Anschübe in einen zögerlichen Bewegungszustand. Letztlich konnte sich der DGB dieser gesellschaftspolitischen Debatte nicht mehr verschließen und verkündete auf dem Bundeskongress 2006 eine Initiative zur Durchsetzung eines Mindestlohns. Der damals mit € 7,50 taxierte Mindestlohn wurde auf dem DGB-Bundeskongress 2010 auf den Level von € 8,50 angehoben. Ein Level, mit dem das viel diskutierte Armutsrisiko nicht minimiert, sondern de facto zementiert wird.
Von der Kritik des Mindestlohns zur Abschaffung des Lohnsystems
Aus dem bisher Skizzierten geht hervor, dass ein Mindestlohnsatz von € 8,50 keinesfalls den Niedriglohnsektor abschafft, sondern diesen nach unten hin reguliert. Der Mindestlohn nimmt mehr den Charakter einer kargen „Fürsorgeleistung“ ein, als dass er einen Mindeststandard fixiert, der Lohnabhängige vor Lohndumping und Hungerlöhnen real bewahrt. Der Mindestlohn kann zudem zu einer Art Lohnleitlinie für Tarifverhandlungen werden, nach der Löhne oberhalb dieser Marke als „zu hoch“ gelten.
Wie unzureichend der geplante Mindestlohn von € 8,50 ist, zeigt allein, dass die Niedriglohngrenze nach OECD-Kriterien (Lohn unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Einkommens) zurzeit in der BRD im europäischen Vergleich bei knapp über € 9,50 liegt. Etwa 24% der Vollzeitbeschäftigten erhält ein Salär unterhalb der OECD-Niedriglohngrenze und etwa 17% der Lohnabhängigen muss mit weniger als € 8,50 brutto in der Lohntüte auskommen, was etwa 5,6 Mio. Beschäftigte sind. Sollten diese zur Disposition stehenden Ausnahmen bei einer Lohnuntergrenze greifen, dann wäre laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung mehr als ein Drittel der im Niedriglohnbereich Beschäftigten von dem Mindestlohnkompromiss ausgeschlossen.
Die Debatte um die Lohnhöhe bewegt sich vornehmlich am unteren Ende der Lohnskala und verdeckt dabei legitime Forderungen nach einem Ausgleich des permanenten Reallohnverlustes. Einen Effekt kann die Mindestlohndebatte aber auslösen, wenn eine Kontroverse um die „Ware Arbeitskraft“ insgesamt einsetzt. Die „doppeltfreien“ Lohnarbeiterinnen veräußern ihre Arbeitskraft unter Marktbedingungen zum Tauschwert an die Eigentümerinnen der Produktionsmittel und erhalten für ihren Einsatz einen um den Mehrwert reduzierten Lohn. Der Ur-Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ist auf ein Neues virulent. Die Konfliktstrategie derjenigen, die außer dem Verkauf ihrer Arbeitskraft nichts abzusetzen haben, ist klar: Dabei geht es in einem ersten Schritt um das Hochtreiben des Preises für den Verbrauch menschlicher Arbeitsleistung, um in einem zweiten Schritt eine generelle Infragestellung des kapitalistischen Lohnsystems einzuleiten.