Rezension eines Gesprächsbandes mit dem Rätekommunisten Paul Mattick
Flutte, Christoph / Geoffroy, Marc (Hg.)
Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer.
Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller.
(Dissidenten der Arbeiterbewegung IV)
Unrast, Münster, 2013, 179 S., € 16,00
In der Reihe „Dissidenten der Arbeiterbewegung“ des Münsteraner Unrast-Verlages erschien jüngst ein Gespräch mit dem streitbaren Rätekommunisten Paul Mattick (1904-1981) unter dem Titel „Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer“, welches der Herausgeber der Gesamtausgabe von Karl Korsch, Michael Buckmiller, 1976 in Vermont/USA führte. Die von Buckmiller erstellte Transkription des Mattick-Interviews lag seit Jahren unbeachtet in einer kopierten Fassung im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam. Die Herausgeber des Gesprächsbandes, Christoph Plutte und Marc Geoffroy, wurden u.a. von dem Sohn Matticks, Paul Mattick jr., motiviert, dieses Interview nach einem Abgleich mit den noch existierenden Tonbandaufzeichnungen zu veröffentlichen.
Die Herausgeber haben sich bei der Konzeption dieses Gesprächsbandes bewusst dazu entschieden, eine kleine Auswahl literarischer Arbeiten Matticks ergänzend aufzunehmen, um „den ‚anderen‘ Mattick“ vorzustellen. (17) Erhellend ist das von Buckmiller nachgereichte Mattick-Portrait als Epilog des Gesprächsbandes. In „Paul Mattick – ein proletarischer Intellektueller. Statt eines Nachworts“ zeichnet er insbesondere die Schaffensperioden eines rätekommunistischen Agitators und Textproduzenten nach, der aufgrund seines nicht-akademischen Hintergrundes – von Selbstzweifeln geplagt – vor schier unüberwindbaren Hindernissen stand. Komplettiert wird der Band durch ein von den Herausgebern erstelltes kommentiertes Personen- und Sachregister sowie eine bibliografische Zusammenstellung der Mattick-Schriften und einen Querschnitt diskursbestimmender Publikationen zum Rätekommunismus.
Mattick zählt neben Otto Rühle (1874-1943), Willy Huhn (1909-1970) und den beiden Inspiratoren der Deutsch-Holländischen Linken, Herman Gorter (1864-1927) und Anton Pannekoek (1873-1960), zu den einflussreichsten rätekommunistischen Akteurinnen innerhalb der antileninistischen marxistischen Arbeiterinnenbewegung.
Mattick als Arbeiter-Union ist
Mattick, der aus den vielzierten „kleinen Verhältnissen“ stammt, zog mit seiner Familie aus dem Pommerschen Stettin in jungen Jahren nach Berlin-Charlottenburg. Matticks Vater war bereits vor dem Ersten Weltkrieg Gewerkschafter und Mitglied der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem Ende dieses ersten weltumspannenden „Völkerschlachtens“ trat er der 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) bei. Der jugendliche Mattick bewegte sich bereits mit 14 Jahren auf Veranlassung des Vaters in der Freien Sozialistischen Jugend (FSJ), „[u]m nicht ein Strolch zu werden“, wie Mattick süffisant anmerkt. (25) Die FSJ geriet mit ihrer Zeitung „Junge Garde“ schnell unter den Einfluss der KPD (Spartakusbund), deren Radikalität sein Vater ablehnte. 1918 begann Mattick eine dreijährige Lehre bei Siemens und im Zusammenhang mit den Ereignissen der Novemberrevolution engagierte er sich im Lehrlingsrat innerhalb des Arbeiterrats des Elektrokonzerns.
Die innerparteilichen Kontroversen der KPD(S) spitzten sich auf dem im Herbst 1919 stattfindenden zweiten Parteitag an den Fragen der Beteiligung am Parlamentarismus und der Tätigkeit in den sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften merklich zu. Ergebnis war, dass sich der Flügel um die Bremer, Hamburger und Dresdner Linksradikalen von der Parteizentrale um Paul Levi (1883-1930) löste bzw. ausgeschlossen wurde. Die sich im April 1920 offiziell konstituierende Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) und die mit ihr verbundene Allgemeine Arbeiterunion Deutschlands (AAUD) repräsentierten anfangs die absolute Majorität innerhalb der kommunistisch positionierten Arbeiterinnenbewegung. Dies weiß auch Mattick zu bestätigen, wenn er ausführt, dass „sich die ganze Gruppe der KAPD angeschlossen [hat]. Es gab überhaupt keinen, der sich mit der Levi-Gruppe solidarisierte und nicht in die KAPD eintrat.“ (27) Der Eindruck der Revolutionsperiode nach dem November 1918, den militanten Streikkämpfen 1919 und der Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches im Frühjahr 1920, die sich schwerpunktmäßig im Machtzentrum Berlin abspielten, erzeugte insbesondere bei den jungproletarischen Aktivistinnen eine Erwartungshaltung einer zeitnahen Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse.
Um in der organisierten rätekommunistischen und arbeiterunionistischen Bewegung der dynamischen proletarischen Jugend ein publizistisches Ausdrucksmittel zu geben, gründete Mattick mit weiteren Jungproleten als Ersatz für die von der KPD(S) beeinflussten Jungen Garde die Rote Jugend. Die Jugendstruktur innerhalb der KAPD nannte sich ebenfalls nach dem Zeitungskopf „Rote Jugend“, (vgl. 28-29)
Diese Zeit des sozialen Aufbruchs war für Mattick durch einen Dauerzustand des Aktivismus geprägt. „Das Theoretische war bei all dieser Aktivität untergeordnet“, gesteht Mattick ein. (34) Die Zeichen standen auf Sturm, Aufrufe zu Revolten und Streiks dominierten das politische Engagement beispielsweise im Rahmen des Aufstandsversuchs im Frühlingsmonat März von 1921. Mattick erinnert sich: „Die Märzaktion, die ich in Berlin erlebte, bestand einfach darin, dass wir versuchten, Berlin in Bewegung zu setzen, das heißt wir trommelten all die Arbeitslosen zusammen, die ganze Jugend, die KAPD-Leute, und dann gingen wir systematisch in die Fabriken.“ (32) Mattick berichtet, dass das Weitertreiben und Vertiefen des Aufruhrs keinen dezidierten „Instruktionen“ folgte, sondern impulsiv und improvisiert war. (vgl. 32) Die insurrektioneilen Aktivitäten im Rahmen dieser sog. Märzaktion erfuhren keine breite geografische Ausdehnung, sondern zentrierten sich im mitteldeutschen Industrierayon Halle-Merseburg. Versuche, die Arbeitsausstände über das Mansfelder Land in andere Regionen zu tragen, scheiterten weitgehend, da es vielerorts lediglich zu einem kurzen widerständischen Aufflackern kam.
Mattick vagabundierte mit einigen anderen Mitstreiterinnen nach Frankreich ins Lothringerische Metz. Letztlich verschlug es ihn nach der Abschiebung aus dem westlichen Nachbarland ins Rheinland nach Köln. „Dort kam ich schnell in Kontakt mit der KAPD, der AAU und auch der AAUE, die meistens aus Künstlern bestand wie Franz Seiwert, Edwin Hörle [sic!] oder Schmidt-Rottluff. Die Mitglieder der AAUE waren meistens Intellektuelle oder Künstler, aber in der AAU waren Fabrikarbeiter.“ (37) Mattick oszillierte zwischen den Sphären des Arbeiterunionismus, die sich sozio-kulturell voneinander abhoben. „So lebte ich in zwei Zirkeln: auf der einen Seite mit all den Intellektuellen in Köln in der AAUE und auf der anderen Seite praktisch mit den Fabrikarbeitern in der AAU“, wie er erwähnt. (54)
Dass das Verhältnis zwischen den beiden Haupttendenzen des Arbeiterunionismus nicht spannungsfrei war, bekam Mattick höchstpersönlich zu spüren, als sich der Herausgeber des bekannten expressionistischen Organs „Die Aktion“, Franz Pfemfert, welches sich ab 1921 als explizite Plattform der AAUE gerierte, weigerte, Texte von Mattick für den Druck freizugeben. Mattick charakterisiert Pfemfert (1879-1954) geharnischt: „[…] ein richtiger Fatzke. Er druckte meine Texte nicht mehr, weil ich in der AAU und nicht in der AAUE war.“ (54) Trotz dieser temporären Dissonanzen verstand Mattick die ideologischen Differenzen innerhalb des unionistischen Lagers nicht als antagonistische Widersprüche, sondern lediglich in taktischer Hinsicht: „Es gab nur einen Unterschied in der Taktik, denn sie sagten, wir brauchen nicht noch eine Partei, wir brauchen eine Einheitsorganisation. Ideologisch waren wir tatsächlich eine Einheit. Da gab es nur die Frage, ist die Partei notwendig oder nicht?“ (85) Die Aussage Matticks simplifiziert die negativen Auswirkungen dieser Fraktionierungen und Ausdifferenzierungen doch gewaltig, wenn man bedenkt, dass die konstanten internen Querelen zu einer nachhaltigen organisatorischen Schwächung des Arbeiterunionismus führen mussten. Der niederländische Rätekommunist Henk Canne Meijer (1890-1962) bestätigt diese Interpretation, wenn er in seinem 1938 verfassten und 1971 erstmals deutschsprachig erschienenen Beitrag „Die Arbeiterrätebewegung in Deutschland (1918-1933)“ von „unüberwindbare[n] Gegensätzen“ in den Reihen des deutschen Unionismus spricht.
Den sog. „Deutschen Oktober“ im Herbst 1923, der den Endpunkt des revolutionären Abschnitts von 1918 bis 1923 darstellte, und die Bildung aufstandsbereiteter proletarischer Hundertschaften erlebte Mattick im Rheinland. Die deutsche Kopie des „russischen Oktober“ finalisierte landesweit in einem Fiasko. In den Städten am Rhein rückten die Angehörigen der Hundertschaften erst gar nicht aus, sondern versuchten sich flugs zu demobilisieren. (vgl. 44) „Nach 1924 sackte die ganze Bewegung ab […] die revolutionäre Situation war vorbei“, konstatiert Mattick (47)
Mattick als Expropriateur
Die partielle Verquickung eines politischen Engagements mit kleinkriminellen Handlungen war für eine bestimmte Generation revolutionärer Aktivistinnen nach der Novemberrevolution 1918/1919 charakteristisch. Mattick suchte im Verbund mit den politisierten Jugend-Cliquen nach Quellen, um die eigene Hauspostille herausbringen zu können. „Um diese Rote Jugend zu finanzieren“, gibt Mattick unumwunden zu, „haben wir angefangen zu expropriieren. Wir stahlen zum Beispiel in den Fabriken Stahl, Blei, Messing und Kupfer und verkauften es bei den Lumpenhändlern.“ (29) Aber nicht nur das. Die gesamte publizistische Vielfalt des organisierten Arbeiterunionismus und Rätekommunismus konnte Mattick zufolge nur durch einen mehr oder minder geschickt durchgeführten Klau aufrechterhalten werden: „Damals wurden jedenfalls der Proletarier, die KAZ und der Kampfruf [Publikationen der KAPD bzw. der AAU, Anm. OR] ausschließlich von expropriierten Geldern aus kleinen Banken, der Post und manchmal auch Lohntüten bezahlt.“ (48-49) Sich die Mittel zur Finanzierung der politischen Infrastruktur auf extra-legalem Wege zu besorgen, galt in den aktivistischen Einheiten nicht als strafrechtlich relevant, sondern als eine „kreative Sonderform“ von Beschaffungskriminalität.
Aber auch von Fehlschlägen weiß Mattick unterhaltend zu berichten. Offenbar war der eine oder andere kleine Raubzug in den bourgeoisen Wohnquartieren nicht immer sonderlich einträglich, da der Schein der Fassade zuweilen nicht das verspricht, was man sich dahinter erhofft: „So sind wir in die Häuser der Reichen gegangen und haben an den Treppen die Messingstangen für die Teppiche rausgezogen und verkauft. Da mussten wir dann feststellen, dass das alles Schwindel ist, dass die Stangen meistens gar nicht aus Messing sind, sondern nur außen mit Messing beschichtet sind, nur manche waren aus Messing.“ (29)
Der Kodex des sozialen Banditentums war ein integraler Bestandteil der zum Teil militant und bewaffnet praktizierten Aufstandspolitik: „Die Banden stahlen genug Geld, um all diese Leute zu ernähren. Wir konnten regelmäßig den Frauen von Verwundeten oder Gestorbenen ebenso Menschen, die auf der Flucht waren, Geld geben, um zu leben.“ (48) Die solidarische Begleitung der Familienangehörigen sowie die materielle und finanzielle; Ausstattung von exilierten Kombattantinnen galt während der politischen Aktivitäten im Zeitraum der breiten Umbruchsstimmung der Jahre nach dem Fall des kaiserlichen Wilhelminismus als eine Selbstverständlichkeit.
Eine Bemerkung von Mattick hinsichtlich der sog. Märzaktion lässt aufhorchen, da er von einer direkten Kampfkoalition der Verbände u.a. von Max Hoelz (1889-1933) und Karl Plättner (1883-1945), dem „mitteldeutschen Bandenführer“, spricht, die in der Literatur bislang nicht ausgewiesen wurde. „Es gab einen Kampf im Mansfeldischen, in dem ein Panzerwagen eingesetzt wurde, ich glaube, in diesem Kampf haben Gonschoreck, Plättner und Max Holz [siel] zusammen operiert.“ (47) Mattick betrachtet Karl Gonschoreck (7-1928), der u.a. für die KAZ und den Kampfruf schrieb, als Prototypen des primitive rebel (Hobsbawm), der in aller Selbstlosigkeit seinen kompletten Hausrat sozialisierte, um sich anschließend in die Scharmützel mit der Reaktion zu begeben. In diesem Kontext schildert uns Mattick, dass er zum Gruppenzusammenhang um Peter Utzelmann (1895-1972) zählte, der als früherer Teilnehmer des Kieler Matrosenaufstandes Ende Oktober 1918 als einer der agilsten Organisatoren der Fabrikkämpfe in den Industrieanlagen von Leuna fungierte. (vgl. 48-49)
Mattick als Wobbly
Nach seiner Ankunft auf dem nordamerikanischen Kontinent im Frühjahr 1926 nahm Mattick schnell Kontakt zu den 1905 in Chicago gegründeten Industrial Workers of the World (IWW) auf, die insbesondere in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens innerhalb der proletarischen Bewegung der USA einflussreich waren. Der hohe Grad an Aktivismus und das Modell der One Big Union, der Organisierung von beschäftigten und beschäftigungslosen Proletarierinnen gleich welcher Herkunft und welchen Geschlechts, übten auf das AAU-Mitglied Mattick eine große Faszination aus: „Die einzige Organisation, die für mich in Frage kam, waren die IWW. So wurde ich dort sofort Mitglied und ich versuchte innerhalb der IWW enge Beziehungen mit den Deutschen und den Schweden herzustellen und zu agitieren.“ (60)
Mattick erkannte nach seiner Kontaktaufnahme mit den Wobblies, wie sich die Anhängerinnen der IWW nannten, schnell deren Defizite im aktiven „Alltagsgeschäft“. Er moniert, dass „[…] die Mitglieder der IWW nicht an politischen Problemen interessiert [waren], sie wollten nur die Organisation aufbauen und Streiken, Streiken, Streiken. So war das nicht zufrieden stellend für mich und ich ging immer noch herum, auf der Suche nach etwas Zusätzlichem.“ (60-61) Einen ergänzenden Organisationskontext fand er vorläufig in der Proletarian Party, (vgl. 62) Mattick versuchte innerhalb dieser kleinen parteipolitischen Formation den nicht-leninistischen Flügel herauszulösen, um eine organisierte Plattform des Rätekommunismus etablieren zu können.
Neben dieser Basissuche in den USA aktivierte Mattick seine alten Verbindungen zur AAU, um die Optionen eines Synergieeffektes zu sondieren: „Die Internationalisierung wurde von mir angeregt, weil ich in der IWW tätig war und weil ich aus der AAU und KAPD kam. Als beide am Zusammenbrechen waren, dachte ich, es wäre doch eine belebende Wirkung, wenn sie sich zusammenfassen würden.“ (68) Matticks durchaus kontroverser Ansatz einer Synthese aus einem revolutionären Unionismus der IWW und einer rätekommunistischen Konzeption der KAPD/AAU formulierte er 1929 in einem Text für das AAU-Organ „Kampfruf“ unter dem Titel „Die Industrial Workers of the World und die Allgemeine Arbeiter-Union. Eine notwendige Klarstellung“. Für Mattick stand im Vordergrund, dass „[man] [a]n die I.W.W. bejahend herantreten [muss], nicht kritiklos, aber mit dem Bewusstsein, die einzige revolutionäre, amerikanische Klassenkampf-Organisation vor sich zu sehen.“ Trotz der nicht zu ignorierenden Differenzen war der IWW ein „proletarische[r], revolutionäre[r] Charakter“ nicht abzusprechen. „Gerade die internationalen Diskussionen“, so Mattick in seinen Vermittlungsbemühungen, „werden das Blickfeld der I.W.W. ungemein erweitern; sie werden die Fragen des Klassenkampfes nicht mehr vom amerikanischen Gesichtspunkt allein, sondern von demjenigen der Weltrevolution aus zu beantworten haben.“
Mattick nimmt in dem Gespräch mit Buckmiller auf dieses nicht realisierte Fusionsprojekt von IWW und AAU explizit Bezug. „Das Resultat war“, so Mattick das unbefriedigende Verhandlungsergebnis wiedergebend, „dass die IWW die Frage auf die Tagesordnung der Jahreskonferenz setzte und sich auf den Standpunkt stellte, dass die AAU doch in die IWW eintreten solle […] Darauf sind natürlich die Leute von der AAU und KAPD nicht eingegangen, sie wollten nicht einfach Mitglieder der IWW werden und ich konnte die IWW nicht davon überzeugen, dass es eine Art Synthese und eine Programmveränderung geben müsse.“ (68-69) Somit wurde die Fortführung der Debatte um diese Projektidee auf eine „fernere Zukunft“ vertagt. (69)
Für eine konzeptionelle Weiterorientierung machte sich Mattick weiterhin im Rahmen der IWW stark. Der programmatische Beitrag „Die Industriearbeiter der Welt (IWW). Programm und Aufgaben. Die Todeskrise des kapitalistischen Systems und die Aufgaben des Proletariats“ wurde im Mai 1933 redaktionell abgeschlossen. In dem von Mattick inhaltlich verantworteten IWW-Dokument wird der revolutionäre Unionismus als betont antiparlamentarisch und antigewerkschaftlich qualifiziert. Sowohl gegen die „parlamentarischen Kuhhandelsmethoden“ als auch gegen die herkömmlichen Gewerkschaften, die „nur Hindernisse einer wirklichen Unionsbewegung [sind] und von der Arbeiterschaft als solche beseitigt werden [müssen]“, propagierte Mattick. Im definierten Gegensatz dazu stehen die „ökonomischen direkten Aktionen“ im Mittelpunkt, allen voran der Streik. „Das Schicksal des Streiks liegt“, unterstreicht Mattick, „allein in den Händen der Streiker. Sie bestimmen Anfang und Ende, sie bestimmen die Forderungen, die sie stellen, und in diesen Streiks hat die I.W.W. keine Sonderinteressen.“ Die Zielsetzung des revolutionären Unionismus in der Version Matticks wird uns in dem Beitrag ebenfalls nicht vorenthalten: „Der Klassenkampf findet seinen Höchstpunkt in der Uebernahme der Produktionsmittel durch die Industrie-Unionen des siegreichen Proletariats zur Herstellung der ASSOZIATION FREIER UND GLEICHER PRODUZENTEN.“
Der Niedergang der IWW ließ sich Mitte der 1930er Jahre nicht mehr aufhalten, eine „Trendwende“ war schlussendlich nicht möglich. Mattick erkannte, dass der Zenit des industriellen Unionismus überschritten war und überlegte, wie der Gedanke der One Big Union lebendig gehalten werden kann. „Ich wollte versuchen,“ erzählt Mattick in der Unterredung mit Buckmiller, „diese tote Sache wenigstens ideologisch weiterleben zu lassen, indem ich einfach Probleme aufwarf, mit denen sie sich sonst nicht auseinandersetzen, weil sie sich sonst auf einen mehr oder weniger rein syndikalistischen Standpunkt, auf Streikfragen bezogen und die internationale Politik als nebensächlich, als Zusatz betrachteten, aber nicht als das Wesentliche.“ (69)
Mattick als Krisentheoretiker
Als eine inhaltliche Initialzündung betrachtete Mattick die Lektüre „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ (1929) von Henryk Grossmann (1881-1950), um aus dem ideologisch defizitären Zustand herauszukommen, „oberflächliche Luxemburgianer oder Unterkonsumptionisten“ zu sein. (62) „Ich war dem Grossmann sehr dafür dankbar“, beschreibt Mattick sein Aha-Erlebnis, „dass er mir die Augen geöffnet hat für die Wert- und Akkumulationstheorie, die die anderen überhaupt nicht begriffen hatten.“ (62) Mit diesem theoretischen Handwerkszeug operierte er im Rahmen der Proletarian Party und „schlug“ eigenen Angaben nach „diese leninistische Unterkonsumtionstheorie mit der Theorie der fallenden Profitrate kaputt.“ (63) Der Kreis, der aus der Proletarian Party ausscherte, firmierte unter dem Label United Workers Party (UWP). Die Bezugnahme auf die wissenschaftliche Arbeit Grossmanns und das Vorhaben, das weltanschauliche Fundament dieser dissidenten Strömung im Arbeiterbewegungsmarxismus solider zu gestalten, fand eine organisatorische Fortsetzung in den Groups of Council Communist. Dieses rätekommunistische Zirkelwesen in den USA sammelte sich im Verlauf des Jahres 1934 und kooperierte eng mit den Zusammenhängen der niederländischen Gruppe Internationaler Kommunisten (GIC) um Anton Pannekoek.
Der gegen Mattick gerichtete Vorwurf, ein orthodoxer Marxausleger zu sein, wurde seitens seiner doktrinären Kontrahentinnen mehrfach in die Runde geworfen. Mattick entgegnet dem Folgendes: „An Marx interessiert mich wirklich nur dieser eine Gedanke, die Entdeckung der immanenten Widersprüche im kapitalistischen Produktionssystem […] Orthodox bin ich nur in dem einen Punkt, dass ich überzeugt bin, dass Marx im Recht war, dass dieses System den Keim der Zersetzung in sich trägt […].“ (105) „[…] was Marx noch gesagt hat“, so Mattick in aller Drastik, „ist mir scheißegal und meistens alles Quatsch.“ (105) Mattick präsentiert sich hier als eigenwilliger Vertreter eines Marxismus-Verständnisses, der u.a. aufgrund seiner einsilbigen Einwürfe mit Gegenwind aus der Welt der monologischen Gelehrten rechnen musste.
In seinem Beitrag „Zur Marxschen Akkumulations- und Zusammenbruchstheorie“ aus der Nr. 4 der „Rätekorrespondenz“ von 1934 argumentierte Mattick gegen eine deterministische Lesart der Grossmannschen Theoreme des Einsturzes des Gebäudes des Kapitalismus, wenn er schreibt: „Die theoretische Erkenntnis, dass das kapitalistische System aufgrund seines treibenden Widerspruches nur in den Zusammenbruch münden kann, verpflichtet durchaus nicht zu der Auffassung, dass der wirkliche Zusammenbruch ein automatischer, von den Menschen unabhängiger Prozess ist.“ Nach Mattick ist vom Faktor Mensch keineswegs abzusehen, denn um „[d]er Verelendung zu entgehen, haben die Arbeiter kein anderes Mittel als die revolutionäre Umwälzung des Systems.“
Die Integrationsfähigkeit des kapitalistischen Systems in Prosperitätsphasen führt dazu, dass die Masse der doppeltfreien Lohnabhängigen keinesfalls voraussetzungslos in den Ausstand mit der Perspektive einer grundlegenden Transformation des Sozialen tritt. Erst wenn zyklische Krisenerscheinungen sich zu einer generellen Systemkrise verdichten, besteht die Aussicht, dass aufrührerische Tendenzen innerhalb des Proletariats zum Durchbruch kommen. Mattick führt diesbezüglich in der Unterhaltung mit Buckmiller aus: „Ich bin überzeugt, dass es ohne Krise keine Revolution gibt […]. Ich bin Katastrophenpolitiker. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeiterklasse in einer Gesellschaft ohne langfristige Krise mit dauerndem Niedergang jemals den Kapitalismus angreifen würde. Sie wird sich einrichten im Kapitalismus, aber nicht angreifen.“ (106) Mattick gelangt folgerichtig zu der Quintessenz, dass „[d]ie Krise also nur aus der Ökonomie kommen [kann].“ (106) D.h. letztlich, wenn der tendenzielle Fall der Profitrate nicht mehr durch eine Vergrößerung der Profitmasse aufgefangen werden kann und die relative Verelendung in eine absolute umschlägt, steigert sich der ökonomische Klassenkampf zum Kampf um die politische Machtfrage – nur wenn die Kapitalverwertung an unüberwindliche Grenzen stößt, kann ein Umwälzungsprozess in Gang kommen.
Mattick als Stichwortgeber
Zeitlebens votierte Mattick leidenschaftlich für einen authentischen Marxismus auf der Basis des dialektischen Materialismus. Mit den Zeitschriften International Council Correspondence (1934-1938), Living Marxism (1938-1941) und New Essays (1942-1943) schaffte sich Mattick aufeinander folgend publizistische Foren, um seine Thesen verbreiten und vertiefen zu können.
Matticks avantgardistische Rolle in der Arbeitslosenbewegung nach dem Börsencrash des „Schwarzen Donnerstag“ Ende Oktober 1929 führte zu einer der massivsten Mobilisierungen in den industriellen Zentren der USA. Die aus der Protestwelle hervorgegangene Workers Alliance setzte auf die Autoemanzipation des verelendeten Heeres der Arbeitslosen: „Die Hauptsache waren die Arbeiter selbst – das heißt hier die Arbeitslosen -, die Selbstbestimmung lernen sollten und die selbst entscheiden mussten, was sie tun wollten. Wir überließen es ihnen, wir machten Vorschläge, wir versuchten aber nicht, eine Politik durchzusetzen, sondern einfach nur das, was die Arbeiter wollten.“ (74)
Mattick hat in einem 1940 verfassten ausführlichen Brief an Porter, den Buckmiller in seiner Retrospektive ausführlich zitiert, über seine enormen Mühsalen als notorischer Autodidakt geschrieben. Eindrucksvoll schildert er: „Ich habe Ambitionen, aber enorme Schwierigkeiten, sie realisieren zu können. […] meine ganze Vergangenheit ist gegen mich. Ich habe keine wirkliche schulische Bildung, all meine Kenntnisse habe ich mir unsystematisch und unter erschwerten Bedingungen selbst beigebracht.“ (147) Matticks Vertiefung in die theoretische Arbeit, der Versuch, sich komplexe politökonomische Sachfragen zu erschließen, entsprangen nach Buckmiller aus dem Motiv einer „Art Selbstprüfung“. (156) Erst spät konnte Mattick mit „Marx und Keynes. Die Grenzen des gemischten Wirtschaftssystems“ (1969, dt. 1971) ein in sich geschlossenes krisentheoretisches Werk vorlegen, mit dem er im akademischen Betrieb punkten konnte.
Der Aufbruch der Neuen Linken ab Mitte der 1960er Jahre führte Mattick zu einer Auseinandersetzung mit dem im studentischen Protestlager hofierten Herbert Marcuse (1898-1979), der im Herbst 1918 kurzzeitig Mitglied des Soldatenrats in Berlin-Reinickendorf war. Mattick kaprizierte sich in seiner Kritik an dem Vertreter der Kritischen Theorie auf die sog. Randgruppenstrategie, die Marcuse in seinem vielbeachteten Werk „Der eindimensionale Mensch“ (1964) lanciert haben soll, als er in seinem Buch die Saturiertheit der proletarischen Klasse im hoch industrialisierten Norden thematisierte.
Auf die Frage Buckmillers nach dem Sinngehalt von kritischer theoretischer Praxis antwortet Mattick: „Die Funktion ist immer dieselbe: Gegen die bolschewistische Theorie, gegen den Staatskapitalismus, den alle diese Leute ohne Ausnahme in der einen oder anderen Mode vertreten, gegen die Weiterführung des Kapitalismus in einer verwandelten Form. Denn alle diese Leute sind Staatskapitalisten.“ (96) Buckmiller verweist darauf, dass sich das lose internationale Netzwerk der Rätekommunistinnen infolge der politischen Marginalisierung und der Reserviertheit der Arbeiterinnenklasse in diskussionsfreudigen Refugien einfand, um buchstäblich ideologisch zu überwintern. Danach „[besteht] [d]ie Hauptfunktion der rätekommunistischen Gruppen in der Kritik. Kritik und Propaganda sind die einzigen praktischen Aktivitäten, die heute möglich sind.“ (160)
In Buckmillers pathetisch unterlegte Ode, dass Mattick „bis zu seinem Tod ein kämpferischer proletarischer Intellektueller, wie wir ihn heute wohl kaum noch finden werden, [blieb]“, ist nur zuzustimmen. (164)
Kritische Randnotizen
Es ist dem Unrast-Verlag zu danken, die Serie der arbeiterbewegten Dissidentinnen nach einer jahrelangen Durststrecke wieder aufgenommen zu haben. Mattick fügt sich gut in die Galerie mit Christian Riechers, Cajo Brendel und Raya Dunayevskaya ein. Der Hinweis in der Einleitung, dass an einer Biografie Matticks aktuell von Gary Rothes gearbeitet wird, ist ein weiteres positives Zeichen, dass der Rätekommunismus über die Person Mattick ein Stückweit aus der Versenkung geholt wird und verstärkt in den Fokus rückt.
Die Wehrmutstropfen, die die Veröffentlichung der 0-Töne Matticks hinterlassen, sind gering an der Zahl: Damit die interessierten Leserinnen die im Einzelfalle tiefgehenden Konflikte im rätekommunistischen und arbeiterunionistischen Spektrum besser hätten nachvollziehen können, wären ausführlichere Anmerkungen zu der Fraktionsbildung und den Spaltungslinien hilfreich gewesen. Zumal sich Mattick selbst in diesen Widerspruchsfeldern bewegte. Inhaltlich falsch sind einige Angaben im Sachregister. Beispielsweise, wenn die AAU als eine KAPD-nahe „Gewerkschaft“ bezeichnet wird. (173) Die Aussage verwischt die Spezifik des Unionsgedanken und die prononciert vorgetragene Gewerkschaftskritik der AAU oder AAUE. Unrichtig ist auch, dass die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) der KAPD 1929 eingestellt wurde. Die KAZ der KAPD der sog. Essener Richtung existierte von 1922 bis 1929, die der sog. Berliner Richtung, die das Blatt der wesentlich mitgliederstärkeren Tendenz war, von 1920 bis 1933.
Das Mattick-/Buckmiller-Gespräch folgt keiner stringenten Linie, so dass bei dem Schnelldurchlauf durch Matticks Vita Aspekte seines politischen Wirkens auf der Strecke bleiben müssen. Passagenweise hat man den Eindruck, einer lockeren Plauderei am Kneipentresen beizuwohnen. Buckmiller räumt ein, „[…] dass das autobiographische Gespräch in weiten Teilen ein Torso bleibt.“ (140) Dennoch ist der Band ein relevantes Zeugnis eines der rätekommunistischen Vordenker, der durch seine unverwechselbare Tonlage besticht.
Auch wenn an dieser Stelle Paul Mattick nicht zur Ikone stilisiert werden soll, geht der Zuruf an Interessierte: Mattick lesen!