In Berlin haben Gefangene der Justizvollzugsanstalt Tegel eine Gewerkschaft gegründet.
von Johannes Spohr
»Die Demokratisierung scheint auch vor den letzten Bastionen der Ordnung nicht mehr haltzumachen: Sie dringt jetzt in die Zuchthäuser und Gefängnisse ein. Dieser Tage soll in Frankfurt von einigen Juristen die erste Gefangenengewerkschaft der Welt gegründet werden.« Als Gefangene in Bonn 1968 versuchten, eine gewerkschaftliche Vertretung zu gründen, wie hier in der Zeit beschrieben, bewegten sie sich in einem gesellschaftlichen Kontext, der sich deutlich vom heutigen unterscheidet. Die damalige Liberalisierung fand ihre Grenzen.
In einem allgemeinen Klima der Regression gründeten Ende Mai 2014 wiederum Gefangene in Berlin eine »Gefangenen-Gewerkschaft der JVA Tegel« als sogenannten nicht-rechtsfähigen Verein. Diese Interessenvertretung zielt ihrer Gründungserklärung zufolge insbesondere auf die Unterstützung der in den JVA arbeitenden Gefangenen ab. Sie stehe allen in der JVA Tegel einsitzenden Beschäftigten offen. Die Hauptforderungen sind deutlich: die Einbeziehung von Gefangenen in die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn und die Aufnahme der im Gefängnis Arbeitenden in die Rentenversicherung. Neben der Vertretung von Forderungen nach außen, so die Erklärung, gehe es aber auch um genossenschaftlich-solidarische Organisation nach innen. Oliver Rast, einer der Sprecher der Initiative, wurde im Mai vorigen Jahres im Zusammenhang mit Hausdurchsuchungen und Verfahren gegen linksradikale Projekte aus dem offenen Vollzug der JVA Hakenfelde in den geschlossenen Vollzug der JVA Tegel verlegt. 2009 war er wegen einer vermeintlichen Mitgliedschaft in der »Militanten Gruppe« (MG) und des Versuchs eines Brandanschlags verurteilt worden.
Für die Organisation von Gefangenen hat sich seit 2005 die in der JVA Werl gegründete Interessenvertretung Inhaftierter (IvI) eingesetzt. Sie hat unter anderem 2008 einen bundesweiten Hungerstreik organisiert und gibt einen Rundbrief heraus. Eine Gewerkschaftsgründung ist ein neuer Schritt, der laut Rast auch auf diesen Versuchen aufbaut. Ziel sei es, das Modell einer Gefangenengewerkschaft nicht nur in Berliner Haftanstalten zu etablieren, sondern bundesweit.
Von den bestehenden Gewerkschaften sind Inhaftierte ausgeschlossen, da die Rechtsform ihrer Tätigkeit nicht ein klassisches Arbeitsverhältnis ist, sondern ein »öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverhältnis eigener Art«. Obwohl sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, haben Inhaftierte kaum Möglichkeiten, ihre ohnehin eingeschränkten Rechte einzufordern. Darüber hinaus sind Gefangene deutscher Justizvollzugsanstalten gemäß Paragraph 41 des Strafvollzugsgesetzes bis zum Rentenalter verpflichtet, zu arbeiten. Ein Verstoß kann disziplinarisch, zum Beispiel mit dem Entzug von Vergünstigungen wie dem Fernseher in der Zelle, geahndet werden und führt zudem dazu, dass man die Gefangenen zur Zahlung von Haftkosten heranzieht. Die 2012 in einigen Bundesländern aufgenommene Initiative zur Abschaffung der Arbeitspflicht war nur in drei Bundesländern erfolgreich. Der Sonderstatus der Arbeit in den Gefängnissen sorgt weiterhin dafür, dass die Inhaftierten von der Rentenversicherung ausgeschlossen sind. Ein Gesetz zur Einbeziehung der Gefangenen wurde 1976 außer Kraft gesetzt, seitdem hat sich daran nichts geändert. Der Rentenanspruch von Menschen, die mehrere Jahre in Haft waren, verringert sich drastisch, nach acht bis zehn Jahren gibt es in der Regel kaum noch Hoffnung für ein Auskommen über Hartz-IV-Niveau. Vor allem bei der Entlassung älterer Menschen ist das ein immenses Problem.
Das Geld, das den arbeitenden Gefangenen tatsächlich nach Abzügen für das Überbrückungsgeld und teilweise für Haftkosten zum Einkauf übrig bleibt, schwankt je nach Lohnstufe und gleicht eher einem Taschengeld als einem Lohn. In der JVA Tegel gibt es sechs solcher Lohnstufen. Viele rechnen sich ihren Stundenlohn erst gar nicht aus. Rast berichtete gegenüber der Jungle World im vorigen Jahr von einem Tagessatz von 10,25 Euro für eine Acht-Stunden-Schicht mit 36 Minuten Pause (Jungle World 42/2013).
Die Gefangenengewerkschaft erhofft sich nun eine konkrete Unterstützung aus den DGB-Einzelgewerkschaften und von basisgewerkschaftlichen Initiativen wie Industrial Workers of the World (IWW) oder der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter Union (FAU). Klaus Abel, dem Pressebevollmächtigten der IG Metall Berlin, war die Gründung bislang nicht bekannt. Es sei grundsätzlich sicherlich mit Offenheit gegenüber solchen Projekte zu rechnen, das müsse aber einzeln geprüft werden. IG-Metall-Mitglieder, die in Strafhaft kämen, könnten bislang in der Gewerkschaft bleiben, eine eigene Abteilung für Häftlinge gebe es jedoch in der Tat nicht.
Andreas Splanemann, Pressesprecher von Verdi Berlin-Brandenburg, betont, man müsse zunächst die Vereinbarkeit mit der Satzung prüfen. Er verweist auf einige bereits existierende Initiativen, die in Projektform unterstützt werden, beispielsweise zur Vertretung illegalisierter Menschen, die undokumentierte Arbeit leisten. Sicherlich gebe es hier Anknüpfungspunkte, allerdings betreffe die Frage der Arbeit im Gefängnis auch die grundsätzliche Durchführung des Strafvollzugs. Bislang gebe es keine Erfahrungen mit der Unterstützung Gefangener.
Ein deutliches Zeichen sendete im Anschluss an die Gründung der Gewerkschaft die Gefängnisleitung: Am 27. Mai wurden die Zellen der beiden Sprecher durchsucht, die die Erklärung der Gründung verbreitet hatten. Der Rechtsanwalt Sven Lindemann, der Oliver Rast juristisch vertritt, betonte daraufhin gegenüber der Taz, den Inhaftierten stehe grundsätzlich das Recht auf Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes zu, dies sei im Gefängnis keinesfalls aufgehoben. Mittlerweile haben Dirk Behrendt, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, sowie der Landesvorsitzende der Linkspartei, Klaus Lederer, schriftliche Anfragen an den Senat gestellt, die eine Erklärung der Zellendurchsuchungen und der Beschlagnahme von Material fordern. Von der Pressestelle der Senatsverwaltung für Justiz wie auch dem Beauftragten für die Öffentlichkeitsarbeit der JVA Tegel, Axel Hoffmann, blieben die Anfragen der Jungle World dazu bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Gegenüber der Taz erklärte Justizsprecherin Lisa Jani bereits, jedwede politische Aktivität, wozu auch das Sammeln von Unterschriften gehöre, sei zuvor mit der Anstaltsleitung abzusprechen, »um der Gefahr vorzubeugen, dass es zu einer Aufwiegelung« komme. Die Verhinderung einer Gefangenengewerkschaft sei nicht beabsichtigt gewesen.
Dem »Solikomitee Olli R.« berichtete Rast, etwa 130 Gefangene aus der JVA Tegel hätten ihren Aufruf bisher unterschrieben, gerechnet werde nach der Befragung der letzten zwei Hafthäuser mit etwa 200 Unterschriften. Solidaritätsschreiben erhielt die Initiative beispielsweise von der FAU sowie dem Komitee für Grundrechte und Demokratie. Aus diversen Presseartikeln sticht einer des britischen Guardian heraus. Frances Cook, Vorsitzende der Britischen Howard-Liga für Strafrechtsreform, solidarisierte sich in diesem mit der Berliner Initiative und ihren Anliegen.