Über die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) im Ersten Weltkrieg informiert eine Neuerscheinung
Helge Döhring
Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. „Im Herzen der Bestie“.
Anarchistinnen & Syndikalistinnen und der Erste Weltkrieg, Band 2
Verlag Edition AV, Lieh (2013), € 17,00
Darstellungen von politischen Strömungen im kaiserlichen Wilhelminismus, die sich in der Zeit des sich zum hundertsten Mal jährenden ersten weltumspannenden Krieg fundamental oppositionell zeigten, fallen selbst im Jubiläumsjahr spärlich aus. Trotz der Dutzenden Neuerscheinungen der vergangenen Monate zu den Hintergründen und zum Verlauf des Ersten Weltkrieges bleibt eine Spurensuche nach diesen Tendenzen, die nicht in den chauvinistischen Chor des „Augusterlebnisses“ von 1914 einstimmten, weitgehend aus.
Helge Döhring setzt mit seinem jüngst erschienenen Buch „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. ‚Im Herzen der Bestie'“, welches den zweiten Band einer Reihe unter dem Titel „AnarchistInnen & SyndikalistInnen und der Erste Weltkrieg“ aus dem Verlag Edition AV bildet, einen publizistischen Kontrapunkt. Nach eigenem Bekunden will er mit dieser Veröffentlichung eine erste Monografie zum Thema vorlegen. Diesen durchaus ambitionierten, selbst formulierten Anspruch kann diese Publikation indes nur zum Teil einlösen. Der thematische Fokus, die Antikriegsposition der lokalistisch-syndikalistischen Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG), erstreckt sich in dem gut 230 Seiten umfassenden Band auf lediglich vierzig Seiten. Zuvor wird die Entstehungsgeschichte des Lokalismus bis 1914 bzw. der Bewegungszustand des sich herausbildenden Syndikalismus kurz vor Kriegsbeginn in knappen Zügen geschildert. Einen relational recht breiten Raum nehmen die Ausführungen zu den SPD-nahen Zentralgewerkschaften, der Generälkommission der Gewerkschaften Deutschlands, und die SPD mit ihrer meinungsbildenden Presse innerhalb der ArbeiterInnenbewegung ein. Im Anhang dokumentiert Döhring im Schwerpunkt themenspezifische Originaltöne von Lokalistlnnen und SyndikalistInnen (u.a. von Fritz Kater oder Fritz Oerter).
Döhrings zentrale These lautet, „dass die lokalorganisierten Gewerkschafter der Arbeiterbewegung aus ihrem Selbstverständnis und aus ihrer Praxis heraus die erste und zunächst einzige proletarische Bewegung, fest organisierter Kriegsgegner auf Reichsebene stellten, die als Teil der Arbeiterbewegung seit Kriegsbeginn entsprechend vom Herrschaftsapparat bekämpft wurden.“ (19-20) Dabei besteht die eigentliche Pionierleistung des Autors darin, die während des Weltkrieges zirkulierenden FVdG-Informationsblätter ausgewertet zu haben, um die betriebliche lokale, und regionale Ausbreitung der FVdG darlegen zu können. Dies bezeichnet Döhring als den ,,quellenorientierte[n] Kernbereich des Buches.“ (11)
Die Anfänge des früh-syndikalistischen Lokalismus
Die Organisationsgeschichte des Lokalismus, den man als Segment der antiautoritären ArbeiterInnenbewegung eingruppieren kann, ist vor allem durch die 1985 veröffentlichte Studie „Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte von 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung“ von Dirk H. Müller erörtert worden. Die FVdG wurde 1897 in Halle unter, dem Namen Vertrauensmänner-Zentralisation Deutschlands als Dachverband der lokalistischen Strömung der proletarischen Bewegung gegründet. Im Zuge des 5. Kongresses von 1903 erfolgte die Namensänderung in FVdG. Offenbar ist das Jahr der Umbenennung strittig. Während in Döhrings zu rezensierendem Band aufgrund eines Druckfehlers keine exakte Jahresangabe benannt ist (vgl. 30), gibt er in seinem Buch „Abwehrstreik … Proteststreik … Massenstreik? Generalstreik! Streiktheorien und -diskussionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor 1914″ (2009) das Jahr 1901 an. (vgl. 21)
Zentrale Figuren des Lokalismus waren Fritz Kater (1861-1945), Raphael Friedeberg (1863-1940) und Arnold Roller (d.i. Siegfried Nacht) (1878-1956), die die Politik der FVdG u.a. aufgrund ihrer Veröffentlichungen programmatisch wesentlich prägten. „Die FVdG befasste sich […]“, so Döhring die FVdG-Aktivitäten skizzierend, „mit den anstehenden gewerkschaftlichen Tageskämpfen zur Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen, propagierte die Idee des Generalstreiks, den Anti-Militarismus, AntiStaatlichkeit, Kirchenaustritte und einen libertären Sozialismus.“ (32) Die FVdG musste von den freigewerkschaftlichen Zentralverbänden als Konkurrenz am linken Rand definiert werden, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt explizit libertäre Inhalte eher schwach vertreten waren. Die SPD-Führung orientierte anfangs auf eine Wiedereingliederung der lokal organisierten Verbände in eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung, die mit dem klassenversöhnlerischen Credo des Vorsitzenden der Freien Gewerkschaften, Carl Legien (1861-1920), in Einklang stehen sollte.
Der Verlauf der sog. Massenstreikdebatte, die sich infolge der eruptiven Ereignisse im zaristischen Russland von 1905-1907 innerhalb der deutschen sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung entfaltete, führte den lokalistischen GewerkschafterInnen vor Augen, dass eine Fusion mit den gewerkschaftlichen Zentralverbänden unweigerlich mit einer Aufgabe der klassenkämpferischen Positionierung, der Favorisierung direkter Aktionen und der föderalistischen Organisationsform einher gehen würde.
Die SPD-Führung baute seit dem Parteitag von 1905 in Jena gegenüber den lokal organisierten Parteimitgliedern zunehmend Druck auf, sich von der FVdG und ihren „anarchosozialistischen“ Bestrebungen mit einem Übertritt in die zentralisierten Gewerkschaften zu distanzieren. Eine entsprechende Parteitags-Resolution, die 1907 verabschiedet und umgesetzt wurde, lehnte die FVdG-Geschäftskommission mehrheitlich ab. Diese Kontroverse sollte sich weiter zuspitzen, bis auf dem SPD-Parteitag von 1908 in Nürnberg die Delegierten einen von der Parteispitze geforderten Unvereinbarkeitsbeschluss mit der FVdG absegneten. Die Spaltung innerhalb der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsbewegung war nun vollzogen.
Der Mitgliederrückgang entwickelte sich nach dem an die FVdG-Aktivistlnnen adressierten SPD-Ultimatum rasant. Verzeichnete die FVdG 1907 noch etwa 17.500 Mitglieder so sank die Zahl der eingeschriebenen Aktiven – von einem Zwischenhoch um 1912/1913 abgesehen – bis zum Beginn der Kriegshandlungen auf 6.000. (vgl. 129) Die polymorphen Bindungen der einzelnen FVdG-Mitglieder an die SPD bzw. das sozialdemokratisch beeinflusste Gewerkschaftsmilieu waren derart eng geknüpft, so dass einer relevanten Mehrheit der FVdG-Organisierten das SPD-Mitgliedsbuch und der Verbleib in den Zentralverbänden wichtiger war als ein aktives Engagement in lokalistischen Strukturen. „Übrig blieb mit der FVdG ein harter Kern sehr überzeugter Aktivisten. Für das Verständnis der Entwicklung des Syndikalismus der Nachkriegszeit ist dies von enormer Bedeutung“, resümiert Döhring. (33)
Der im Mai 1914 in Berlin abgehaltene 11. FVdG-Kongress war der letzte vor dem Auftakt des Weltkriegsgeschehens und „[d]ie Bestandsaufnahme der örtlichen Entwicklung der eigenen Organisation zeigte mehr Defizite auf als ein Vorwärtskommen“, wie der Autor vermerkt. (38) Mit dem Einsetzen der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan) zeigte sich die FVdG demnach in keiner sonderlich stabilen organisatorischen Verfassung.
Gegen imperialistischen Krieg und sozialdemokratischen Burgfrieden
Die FVdG geriet schnell nach den Kriegserklärungen des wilhelminischen Deutschlands an Russland und Frankreich Anfang August 1914 in das Mühlenwerk der Repression. Döhring weist ausdrücklich darauf hin, dass die FVdG mit keinem generellen Verbot belegt oder gar in ihrer Struktur komplett zerschlagen wurde, (vgl. 60) Allerdings wurden ihre Betätigungsmöglichkeiten z.T. massiv eingeschränkt. Um der Publizität von Stellungnahmen gegen Krieg und Burgfrieden den Vermittlungs- und Verbreitungsraum zu nehmen, wurden entsprechende Organe kurzerhand staatlicherseits aus dem Verkehr gezogen. Am 5. August wurde die Herausgabe des FVdG-Organs „Der Pionier“ und nur drei Tage später der Vertrieb des lokalistischen Flaggschiffs „Die Einigkeit“ von den Behörden untersagt. Damit waren den lokalorganisierten Gewerkschaften die publizistischen Ausdrucksmittel entrissen.
Anhand der detaillierten Auswertung der jeweils verbotenen FVdG-Zirkulare „Mitteilungsblatt der Geschäftskommission der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ (August 1914 bis Juni 1915) und des Nachfolgeblatts „Rundschreiben an die Vorstände und Mitglieder aller der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften angeschlossenen Vereine“ (Juni 1915 bis Mai 1917) kann Döhring eine Art Lagebild lokalistisch-syndikalistischer Strukturen in den Betrieben entwerfen. Hiermit zeigt er auf, „dass die Syndikalisten eine Rolle innerhalb der widerständigen Arbeiter- und Streikbewegung einnahmen, wobei ihnen die langjährige Organisationserfahrung zugute kam, die den unorganisierten und als ‚Massenarbeiter‘ bezeichneten Kollegen weitgehend abging.“ (24) Zeitgleich zur betrieblichen Aktivität von SyndikalistInnen bildeten sich seit den ersten Kriegsmonaten „auch Keime der späteren ‚Revolutionären Obleute'“, wie der Autor feststellt. (20) Die Revolutionären Obleute um Richard Müller (1880-1943) operierten als informelles oppositionelles Netzwerk des freigewerkschaftlichen Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) und als innersozialdemokratische Interventen gegen die dominante Pro-Kriegsstimmung. Allerdings darf nach bisherigem Forschungsstand Döhring zufolge festgehalten werden, dass für die organisierten syndikalistischen Kräfte in den Betrieben das „Prädikat“ zu reklamieren ist, als erste eine revolutionär-antimilitaristische Praxis an den Tag gelegt zu haben, (vgl. 22)
Bezugnehmend auf die Erstausgabe des FVdG-Mitteilungsblatts vom 3. August 1914 fasst der Autor die Aufgabenstellungen der lokalorganisierten GewerkschafterInnen unter den Bedingungen des Krieges zusammen: „1. Die Mitglieder in der Organisation zu halten. 2. Die Versammlungen fortzuführen, beispielsweise durch Lese- und Vortragsabende. 3. Den organisatorischen Bestand der Ortsvereine abzusichern durch die Ernennung von Ersatzvorständen für plötzlich zum Krieg berufene Mitglieder. Empfohlen wurde die Wahl von nichtmilitärpflichtigen Genossen. 4. gegenseitige Unterstützung der Ortsvereine an einem Ort von Mitgliedern und deren Familien zu gewährleisten. 5. Bevollmächtigte für alle Ortsvereine am Ort zu ernennen, die den Kontakt zur Geschäftskommission halten, sowie das Mitteilungsblatt an die Vorstände verteilen.“ (63) Mit der Durchführung wissenschaftlicher Vortragsabende galt es, das ideologische Fundament des Lokalismus zu festigen, um der aufgeheizten (sozial-)chauvinistischen Atmosphäre in der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung zu trotzen. Die Erledigung innerorganisatorischer und gewerkschaftlicher Tagesaufgaben sollte ferner ein Mindestbestand an Struktur und ein Mindestmaß an Tätigkeit aufrechterhalten.
Die bellizistische Fraktion innerhalb der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung ging de facto mit der Staatsführung einen Kontrakt ein, nach dem die Einstellung von Arbeitskämpfen mit einer Eingrenzung des Ausbeutungsgrades in den kriegsrelevanten Industrien honoriert wurde. Die von dieser Fraktion befürworteten staatsdirigistischen Eingriffe in das Wirtschaftsleben, die den Betriebsfrieden zu wahren hatten, wurden unter dem irreführenden Begriff „Kriegssozialismus“ bekannt, (vgl. 53) Im Zuge des Rüstungs- und Wirtschaftsprogramms der Obersten Heeresleitung (OHL), dem sog. Hindenburg-Programm, gelangte Anfang Dezember 1916 das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ (HDG) zur Verabschiedung, das eine verbindliche Arbeitspflicht für alle Männer im Alter von 17 bis 60 Jahren gesetzlich verankerte, um die Kriegsproduktion auf hohem Niveau zu halten. Diese Kumpanei zwischen SPD und OHL brachte es mit sich, dass früh-syndikalistische Positionen und Strukturen innerhalb und außerhalb der Betriebe wirksam marginalisiert werden konnten.
Um den Auflösungs- und Zerfallsprozess der FVdG aufzuhalten, erging im vom Autor dokumentierten Text „Zwei Jahre Weltkrieg“ aus dem Rundschreiben (Nr. 28, 1. August 1916) ein eindringlich formulierter Appell an die AnhängerInnenschaft des Lokalismus: „[…] Haltet fest zur Organisation! Pflegt dieselbe nach besten Können und Vermögen, damit später nicht auch noch neben allem anderen der Verlust der Organisation und ihre Kraft zu beklagen ist.“ (132) In diesem Kontext führt Döhring die Gründung einer syndikalistischen Vereinigung in Berlin, die Anfang 1917 in der Hauptphase des Krieges gebildet wurde, als konträre Mikrostruktur an. Die Existenz des Allgemeinen Arbeitervereins Berlin verweist darauf, dass die SyndikalistInnen obgleich des kriegsbedingten Aderlasses über die Bildung neuer Vereinigungen ein gewisses Organisationsleben bewahren konnten. Der Zweck dieses Berliner proletarischen Bundes wird in der im FVdG-Rundschreiben (Nr. 43 vom 15. März 1917) veröffentlichten Satzung offeriert: „Der Allgemeine Arbeiterverein […] hat die Aufgabe, seine Mitglieder in die Grundsätze der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften einzuführen, sie in die Ideen des internationalen Sozialismus zu vertiefen und dadurch das proletarische Klasseninteresse und die solidarische Gemeinsamkeit der Arbeiterklasse der ganzen Welt in ihnen zu wecken und zu festigen.“ (126)
In den internationalen anarchistischen und syndikalistischen Zusammenhängen wurde das Pro und Contra einer (offensiven) Unterstützung der Kriegsparteien kontrovers diskutiert. Das traditionelle libertäre Votum, jeglichen Beistand gegenüber kriegsbeteiligten Staaten einer innerimperialistischen Auseinandersetzung abzulehnen, wurde umso energischer einem Belastungstest unterzogen, als im Februar 1916 ein erlesener Kreis von Libertären verschiedener Couleur das „Manifest der 16″ unter geistiger Federführung von Peter Kropotkin (1842-1921) lancierte. Die Unterzeichnenden sprachen sich, unter ihnen Jean Grave (1854-1939) und Christiaan Cornelissen (1864-1942), explizit für einen militärischen Triumph der Triple Entente (Vereinigten Königreich, Frankreich und Russland) gegenüber dem Block der Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn) aus. Die KritikerInnen sahen in dem verbreiteten Manifest einen Dammbruch der antimilitaristischen
Maxime, die nun gründlich aufgeweicht schienen. „Dennoch verblieb die überwältigende Mehrheit der Anarcho-Syndikalisten international auf dem grundsätzlichen Standpunkt unbedingter Unparteilichkeit“, wie Döhring betont, „darunter auch die FVdG […].“ (66)
Die Frage, warum sich der Löwenanteil der organisierten sozialdemokratischen ArbeiterInnenschaft vom Kriegstaumel einfangen ließ, problematisierte Fritz Oerter in der Auftaktnummer von „Der Syndikalist“ (Nr. l, 14. Dezember 1918). In dem im Buchanhang dokumentierten Artikel „Die deutschen Arbeiter im Weltkrieg“ konstatierte er: „Ratlos und ziellos irrten die Arbeiter in jenen ersten Tagen auf den Straßen umher, bereit zu allem, für oder gegen den Krieg. Sie warteten darauf, wozu sie von ihren Führern aufgefordert würden.“ (138) Das blitzartige Verwerfen eines proletarischen Antimilitarismus und die aktive Kriegsteilnahme der arbeiterInnenbewegten Massen lassen sich nur schwerlich einzig darauf zurückführen, dass die sozialdemokratischen ArbeiterInnen von der OHL für deren Kriegsinteressen funktionalisiert wurden. Die als Stigmatisierung empfundene Fremdzuschreibung als „vaterlandslose Gesellen“ wurde von den VertreterInnen der revisionistischen und zentristischen Mehrheitsströmungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie u.a. auf der parlamentarischen Bühne regelmäßig zu entkräften versucht. Die (anfängliche) Kriegseuphorie und die lediglich rhetorisch verbalisierte internationale proletarische Solidarität in den Reihen der sozialdemokratischen ArbeiterInnenschaft irritieren umso weniger, wenn bedacht wird, dass die Einhaltung einer machiavellischen Staatsräson sowohl für die SPD-Nomenklatura als auch für die Mitgliederbasis von großer Bedeutung war.
Nach Kriegsende kamen in Berlin sowie an Rhein und Ruhr „die Syndikalisten gut aus den Startlöchern“, wie Döhring notiert. (101) Mit der zügigen Reorganisierung des (Anarcho-)Syndikalismus sowie der Gründung der Freien Arbeiterunion Deutschlands (FAUD) im Hergang der Novemberrevolution 1918/1919 konnten Fritz Kater und seine KombattantInnen direkt an den Vorkriegs-Lokalismus der FVdG anknüpfen.
Vorstudie oder Monografle?
Döhring postuliert, dass sein Buch „gründlich und quellenorientiert“ den Beitrag der lokal organisierten GewerkschafterInnen „speziell für die Zeit von 1914 bis 1918 heraus[arbeitet].“ Nicht einsichtig ist deshalb, warum bestimmtes Textmaterial keine Berücksichtigung findet. Der inhaltlich nicht sonderlich ergiebige Text von Jürgen Mümken „Vom Lokalismus zum revolutionären Syndikalismus. Die ‚Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften'“ bleibt ebenso unerwähnt wie die im Gegensatz dazu wegweisende FAUD-Monografie von Hartmut Rübner unter dem Titel „Freiheit und Brot: Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus“ (1994).
Um die These, dass die lokal organisierten Verbände die ersten authentischen Antikriegspositionen innerhalb der buntscheckigen ArbeiterInnenbewegung demonstrativ artikulierten, besser abzustützen, hätte ein Blick auf die zeitgenössischen Richtungen der radikalen Linken erfolgen müssen. Die radikale Linke gruppierte sich insbesondere um die Zeitungen Lichtstrahlen aus Berlin (Julian Borchardt), Bremer Bürger-Zeitung bzw. Arbeiterpolitik aus Bremen (Johann Knief, Karl Radek, Paul Frölich) sowie den Kampf aus Hamburg (Heinrich Laufenberg, Fritz Wolffheim). Als ein (loses) organisatorisches Geflecht bildeten sich aus dem Umfeld der linksradikalen Presse die Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD). Antimilitaristische Auffassungen und eine gegen die Burgfriedenspolitik der SPD-Mehrheit gerichtete Agitation fanden in den besagten Gazetten ihre Betonung. In diesen Gruppierungen des Linksradikalismus entstanden die Vorformen des Arbeiter-Unionismus, der in einer seiner Unterströmungen das Modell einer politisch-wirtschaftlichen Einheitsorganisation ausprägte.
Eine Heranziehung des inhaltlichen Materials des bereits abschließend vorbereiteten zehnten Kongresses der Zweiten Internationale, der für Ende August 1914 in Wien vorgesehen war, wäre aufschlussreich gewesen, um die kriegsverhindernden Bemühungen von SozialdemokratInnen und SozialistInnen zumindest registriert zu haben. Unberücksichtigt bleibt folgerichtig auch das Konferenzgeschehen der kriegskritischen bzw. -ablehnenden deutschen sozialdemokratischen und sozialistischen Kräfte in den Schweizerischen Dörfern Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) und Kienthal (24. bis 30. April 1916). Der radikale Flügel formierte sich zur sog. Zimmerwalder Linken, die einen konsequent revolutionär-antimilitaristischem Kurs verfocht.
Im Ergebnis handelt es sich bei der vorgelegten Arbeit von Döhring mehr um eine Vorstudie als um eine in sich geschlossene und umfassend quellenbasierte Monografie zur FVdG während des Ersten Weltkriegs. Das schmälert nicht den Gehalt dessen, was zusammengetragen wurde, zeigt aber auf, dass eine monografische Abhandlung noch vorzulegen ist, die zum einen die Wechselwirkungen zwischen den mehrheitssozialdemokratischen, unabhängig-sozialdemokratischen und prä-arbeiterunionistischen mit den lokalistisch-syndikalistischen Strömungen innerhalb des Proletariats im Wilhelminismus detailliert nachzeichnet. Zum anderen sollte die umfängliche neue Forschungsliteratur zum Ersten Weltkrieg in die Thematik einfließen, um den aktuellen Untersuchungsstand benennen zu können. Es ist zwar sympathisch, aber unzureichend, sich fast ausschließlich auf Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18″ (1964) zu beziehen.
Döhring, der als syndikalistischer Bewegungsautor nach Eigenaussage ohne jegliche finanzielle Ausstattung partei- oder gewerkschaftsnaher Stiftungen auskommen muss, hat mit seinen veröffentlichten (Teil-)Ergebnissen erkennbar einige wichtige Wegmarken hinterlassen, an denen sich künftige thematische Buchausgaben orientieren können, um dem Wirkungskreis des Syndikalismus zwischen 1914 und 1918 fortgesetzt nachzuspüren.
Helge Döhring
Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. „Im Herzen der Bestie“.
Anarchistinnen & Syndikalistinnen und der Erste Weltkrieg, Band 2
Verlag Edition AV, Lieh (2013), € 17,00